Als öffentlicher Auftraggeber können Sie einen Auftrag über ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nur an ein bestimmtes Unternehmen vergeben (Direktvergabe), wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe vorliegen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Ereignisse eintreten, die Sie nicht voraussehen konnten und die es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind. Wichtig ist, dass die Ereignisse nicht durch Sie als Auftraggeber verursacht worden sind (§ 14 VgV). Doch wann liegen alle diese Voraussetzungen vor? Wann können die Mindestfristen wirklich nicht eingehalten werden? Und welche Laufzeit darf ein Vertrag haben, der aufgrund von äußerster Dringlichkeit vergeben wurde? Die Antworten auf diese Fragen gab kürzlich das OLG Karlsruhe.
Was war geschehen?
Im Jahr 2017 hatte ein Busunternehmen eine Ausschreibung für bis ins Jahr 2026 laufende Busverkehrsleistungen gewonnen und den Betrieb der Buslinien aufgenommen. In den Folgejahren kam es jedoch in wirtschaftliche Schwierigkeiten und beantragte die Entbindung von seiner Betriebspflicht. Am 12.03.2020 erging daraufhin ein Bescheid der Genehmigungsbehörde, wonach das Busunternehmen ab dem 15.04.2020 von der Betriebspflicht entbunden wurde. Um den Busverkehr nach diesem Datum aufrecht zu erhalten, ging der Auftraggeber dazu über, die Busverkehrsleistungen für zwei Jahre an zwei andere Unternehmen ohne erneute Ausschreibung direkt zu vergeben. Das ursprünglich mit den Busverkehrsleistungen betraute Unternehmen rügte, dass es an der Auftragsvergabe hätte beteiligt werden müssen und die Dringlichkeitsvergabe an die zwei anderen Unternehmen vergaberechtswidrig gewesen sei.
Die Entscheidung des OLG Karlsruhe
Nach den Feststellungen des OLG Karlsruhe vergingen von der Entscheidung des Genehmigungsbehörde über die Entbindung von der Betriebspflicht vom 12.03.2020 bis zu dem Datum, an dem ein neues Unternehmen den weiteren Betrieb aufnehmen musste – dem 15.04.2020 –, 35 Tage. Im Vergabevermerk wurde festgehalten, dass bei einer bloßen Verkürzung der Angebotsfrist auf mindestens 15 Tage im – normalerweise durchzuführenden – offenen Verfahren in diesem kurzen Zeitraum die notwendige Vorbereitungszeit auf den Auftrag (sog. Rüstzeit) für die Nachfolgeunternehmen nicht hätte erreicht werden können.
Diese Begründung konnte das OLG Karlsruhe jedoch nicht überzeugen. Das Gericht stellt zunächst dar, dass die tatsächliche Rüstzeit für eines der neuen Unternehmen nur 8 Tage betrug, sodass kein wesentlich längerer Zeitraum in der vorherigen Fristberechnung angesetzt werden konnte. Zudem war mehreren Konkurrenzunternehmen schon länger bekannt, dass das Bestandsunternehmen den Betrieb einstellen muss, weshalb sich die Unternehmen auf die Übernahme des Linienverkehrs bereits vorbereitet hatten und bereits im Januar Interesse an der Durchführung des Linienverkehrs bekundeten.
Weiterhin standen dem Auftraggeber laut OLG Karlsruhe zur Durchführung des Vergabeverfahrens nicht lediglich die 35 Tage seit der Entscheidung über die Entbindung von der Betriebspflicht zur Verfügung: Vielmehr war dem Auftraggeber spätestens seit einem gemeinsamen Gespräch mit dem Bestandsunternehmen am 5.2.2020 bekannt, dass eine Anschlussvergabe geprüft werden muss; er befasste sich seitdem auch tatsächlich bereits mit der Planung der Anschlussvergabe.
Somit konnte der öffentliche Auftraggeber nicht plausibel darstellen, dass die Einhaltung der Mindestfristen eines offenen Verfahrens nicht möglich war, insbesondere wenn er von der Möglichkeit der Verkürzung auf 15 Tage nach § 15 Abs. 3 VgV Gebrauch gemacht hätte.
Auch gegen die Laufzeit der Neuverträge von zwei Jahren äußert das OLG Bedenken. Im Hinblick auf den Wettbewerbsgrundsatz und das Transparenzgebot dürfe eine Dringlichkeitsvergabe nur in dem Maße stattfinden, wie es die Dringlichkeit verlangt. Dementsprechend muss die Vertragslaufzeit auf denjenigen Zeitraum beschränkt werden, innerhalb dem eine reguläre wettbewerbliche Auftragsvergabe durchgeführt werden kann. Nach Ansicht des OLG ist es daher zweifelhaft, dass hierfür volle zwei Jahre benötigt werden.
Praxishinweis
Eine Dringlichkeitsvergabe, insbesondere wenn sie dazu führt, dass bestimmte Unternehmen – sei es auch nur „interimsweise“ – direkt beauftragt werden, unterliegt besonders engen gesetzlichen Voraussetzungen. Der Zeitdruck, dem öffentliche Auftraggeber bei Dringlichkeitsvergaben ausgesetzt sind, darf nicht dazu führen, die Prüf- und Dokumentationspflichten zu vernachlässigen. Was oft vergessen wird: Die Dokumentation muss sich bei einer Dringlichkeitsvergabe an ein bestimmtes Unternehmen auch gezielt darauf richten, weswegen im Einzelfall die Mindestangebotsfristen im offenen oder nicht offenen Verfahren nicht eingehalten werden können. Da sich diese Mindestfristen bis auf 15 Tage herunterkürzen lassen, ist ein erheblicher Begründungsaufwand und eine nachvollziehbare Darlegung erforderlich. Dazu gehört auch, warum bei einer derart verkürzten Angebotsfrist keine rechtzeitige Vergabe im Wettbewerb erfolgen kann. Ein pauschaler Verweis auf die Rüstzeit (Vorbereitungszeit) der Bieter, ohne konkret anzugeben, mit welcher Länge tatsächlich zu rechnen ist, reicht jedenfalls nicht. Im Zweifel muss also auch in dringenden Fällen, z. B. im Bereich der Daseinsvorsorge, das verkürzte offene oder nicht offene Verfahren gewählt werden, um ein Mindestmaß an Wettbewerb herzustellen.
Bei der Berechnung des Vergabezeitplans für die Anschlussvergabe und der Frage, ob die Mindestangebotsfristen eingehalten werden können, ist nach dem OLG Karlsruhe auch der Zeitpunkt der Kenntnis des Auftraggebers von den tatsächlichen Umständen, die zu der Anschlussvergabe veranlassen, relevant. Das Abstellen auf den Zeitpunkt einer rechtförmlichen Verwaltungsentscheidung – hier über die Entbindung der Betriebspflicht durch die Genehmigungsbehörde – ist nicht ausreichend, wenn bereits vorher Kenntnis bestand und mit den Vorbereitungen für die Anschlussvergabe begonnen werden konnte.
Bei einer Dringlichkeitsvergabe, die zur Überbrückung des Zeitraums bis zu einer langfristigen Vergabe erfolgt, ist überdies im Einzelfall zu prüfen, welche Vertragslaufzeit hierfür gewählt werden kann. Zulässig ist eine solche „Interimsbeauftragung“ nur für den Zeitraum, in dem anschließend ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren „in der Hauptsache“ durchgeführt werden kann. Hierbei verbieten sich pauschale Ansätze. Die im ÖPNV-Bereich – schon allein wegen der einjährigen Vorabbekanntmachungspflicht – üblicherweise herangezogenen zwei Jahre Interimslaufzeit können im Einzelfall „erheblichen Bedenken“ (OLG Karlsruhe) unterliegen. Insbesondere wenn bereits alle Vergabeunterlagen vorliegen oder kurzfristig zusammengestellt werden können und auch sonst keine konkreten Verzögerungsgründe im Vergabeverfahren absehbar sind, müssen auch im ÖPNV-Bereich kürzere Interimslaufzeiten angesetzt werden.
Quelle
Christopher Theis ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht bei BEITEN BURKHARDT in Frankfurt. Er berät schwerpunktmäßig öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung und Durchführung EU-weiter und nationaler Vergabeverfahren. Herr Theis begleitet seine Mandanten dabei auch intensiv bei der Vertragsgestaltung und -verhandlung und vertritt deren Interessen vor den Nachprüfungsinstanzen.
BEITEN BURKHARDT berät als eine der führenden Kanzleien im Bereich der vergaberechtlichen Beratung öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Durchführung und Realisierung von Beschaffungsmaßnahmen. Ein Fokus liegt hier auf komplexen Großvorhaben im Bereich der Informations- und Hochtechnologie. Daneben berät die Kanzlei anbietende Unternehmen bei der Teilnahme an Vergabeverfahren.
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