Wann besteht ein grenzüberschreitendes Interesse bei Unterschwellenvergaben?

19.10.2016
Expertenbeitrag

Bei der Vergabe von Aufträgen im Unterschwellenbereich gilt das europäische Primärrecht. Das gilt aber nur, sofern bei diesen Aufträgen ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse festzustellen ist. Dann sind die Grundregeln des AEUV, insbesondere der Art. 49 AEUV (Niederlassungsfreiheit) und Art. 56 AEUV (Dienstleistungsfreiheit), sowie die sich daraus ergebenden allgemeinen Grundsätze der Gleichbehandlung, Nichtdiskriminierung und Transparenz zu beachten. Öffentliche Auftraggeber sind daher regelmäßig mit der Frage konfrontiert, ob bei ihren Beschaffungsvorhaben unterhalb der europäischen Schwellenwerte ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse vorliegt und deshalb von ihnen primärrechtliche Vergabebindungen zu beachten sind, wie etwa die Pflicht zur Gewährleistung eines angemessenen Grades an Öffentlichkeit (Bekanntmachung).Art. 49 und 56 AEUV

Leitsatz

Ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse kann nicht hypothetisch aus bestimmten Gegebenheiten abgeleitet werden, die abstrakt betrachtet für ein solches Interesse sprechen könnten, sondern es muss sich positiv aus einer konkreten Beurteilung der Umstände des fraglichen Auftrages ergeben.

Sachverhalt

Eine italienische Gemeinde hat Bauleistungen mit einem Auftragswert von rd. 1,2 Mio. Euro national ausgeschrieben. Das den EuGH zur Vorabentscheidung anrufende Gericht hielt ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse an dem Bauauftrag aber für nicht ausgeschlossen, weil die ausschreibende Gemeinde weniger als 200 Kilometer von der französischen Grenze entfernt liegt und sich zahleiche italienische Bauunternehmen um den Auftrag bemühten, die in einer Entfernung von bis zu 800 Kilometer ansässig sind. Weitere Gründe für einen Binnenmarktbezug der zu vergebenden Bauleistungen wurden vom vorlegenden Gericht nicht genannt.

Die Entscheidung

Der EuGH bestätigte seine bisherige Rechtsprechung, wonach Unterschwellenvergaben den Grundregeln und den allgemeinen Grundsätzen des AEUV unterfallen, sofern an den öffentlichen Aufträgen angesichts bestimmter objektiver Kriterien ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht (Rdnr. 19). Solche objektiven Kriterien können z.B. im fraglichen Auftragsvolumen in Verbindung mit dem Leistungsort, den technischen Merkmalen des Auftrages oder den Besonderheiten der betreffenden Waren zu finden oder auch durch ernstgemeinte Beschwerden von Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten begründet sein (Rdnr. 20).

Ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse muss sich aber positiv aus einer konkreten Beurteilung der Umstände des zu vergebenden Auftrages belegen lassen. Es genügt daher nicht, dass sich ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse nicht ausschließen lässt oder sich hypothetisch aus bestimmten Gegebenheiten ergeben könnte, die bei abstrakter Betrachtung für ein solches Interesse streiten könnten (Rdnr. 22).

Nach Einschätzung der Luxemburger Richter wäre es deshalb nicht gerechtfertigt, bei einem Auftrag, dessen Wert wie im vorliegenden Sachverhalt – nicht einmal ein Viertel des EU-Schwellenwertes erreicht und bei dem der Leistungsort 200 Kilometer von der Grenze zu einem anderen Mitgliedstaat entfernt liegt, ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse nur deshalb zu bejahen, weil binnenländische Bieter in erheblicher Entfernung zum Ausführungsort ansässig sind (Rdnr. 24). Denn potenzielle Bieter aus anderen Unionstaaten können insbesondere wegen der ihnen häufig fremden Rechts- und Verwaltungsvorschriften am Ausführungsort und der Sprachbarriere zusätzlichen Belastungen und Kosten ausgesetzt sein (Rdnr. 25), die eine grenzüberschreitende Tätigkeit erschweren.

Rechtliche Würdigung

Die Ausführungen des EuGH sind aus öffentlicher Auftraggebersicht begrüßenswert, weil die Richter das Erfordernis eines eindeutigen grenzüberschreitenden Interesses in Zweifelsfällen nicht ohne weiteres bejahen. Nur dann, wenn ein solches Interesse konkret und positiv im Einzelfall festgestellt wird, müssen die Grundregeln und allgemeinen Grundsätze des AEUV bei Unterschwellenvergaben angewandt werden. Eine rein abstrakte oder bloß hypothetische Bewertung der vom EuGH wiederholt beispielhaft genannten objektiven Kriterien (z.B. Auftragswert, geografische Lage des Leistungsorts) ist gerade nicht ausreichend, um den nötigen Binnenmarktbezug zu positivieren.

Allerdings bleiben die Vergabestellen weiterhin mit dem Praxisproblem konfrontiert, das (Nicht-)Vorliegen eines eindeutigen grenzüberschreitenden Interesses einzelfallabhängig anhand der wenig konturscharfen objektiven Kriterien bewerten zu müssen. Das kann mitunter beachtliche Zeit- und Verwaltungsaufwände verursachen. Denn aus dem EuGH-Urteil darf nicht pauschal gefolgert werden, dass z.B. öffentliche Auftraggeber, die mehr als 200 Kilometer von der nächsten Landesgrenze entfernt liegen oder einen Auftrag vergeben, der weniger als 25% des jeweiligen EU-Schwellenwertes beträgt, per se keinen primärrechtlichen Bindungen unterliegen.

Praxistipp

Die Vergabestellen sollten die einzelnen vom EuGH aufgestellten objektiven Kriterien auf den jeweiligen Beschaffungsfall projizieren und anhand derer das konkrete Für und Wider eines eindeutigen grenzüberschreitenden Interesses positiv oder negativ feststellen sowie dokumentieren. Wenn bspw. eine direkt an der österreichischen Landesgrenze gelegene oberbayerische Kommune Gebäudereinigungsdienste mit einem geschätzten Netto-Auftragswert von 180.000 vergeben will und im österreichischen Nachbarort ein Gebäudereinigungsdienstleister ansässig ist, dann werden die primärrechtlichen Vergabegrundsätze Anwendung finden müssen, zumal insoweit auch keine wesentlichen Sprach- oder Rechtshindernisse einer grenzüberschreitenden Tätigkeit entgegenstehen.

 

Von Holger Schröder | Quelle: Vergabeblog.de vom 16/10/2016, Nr. 27576

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