Aus 2 mach 1: Wann müssen die Auftragswerte addiert werden?

07.04.2021
Von: Christopher Theis
Expertenbeitrag

Damit das EU-Vergaberecht angewendet werden kann, muss der geschätzte Auftragswert die EU-Schwellenwerte (5,35 Mio. EUR netto bei Bauleistungen, 214.000 EUR netto bei Liefer- und Dienstleistungen) überschreiten. Auch die Zuständigkeit der Nachprüfungsinstanzen ist davon abhängig. Bei der Schätzung des Auftragswerts (siehe § 3 Abs. 1 S. 1 VgV) müssen Sie den voraussichtlichen Gesamtwert der vorgesehenen Leistung ermitteln. Doch was ist, wenn es mehrere Bauvorhaben mit zeitlichem Abstand zu einander gibt? Müssen Sie diese zu einem Auftragswert addieren oder können Sie getrennte Aufträge ausschreiben. Genau vor dieser Frage stand das OLG Schleswig im Januar 2021.

Strittig war insbesondere die Frage, ob es sich bei den verschiedenen Bauvorhaben um einen einheitlichen oder um zwei getrennte Aufträge handelte. Das OLG ging von einem funktionalen Auftragsbegriff aus, wonach ein einheitlicher Auftrag dann gegeben ist, wenn der eine Teil ohne den anderen keine sinnvolle Funktion hat.

Was war geschehen?

Die Auftraggeberin betreibt ein Messegelände, das sie seit 2009 umfassend modernisiert und erweitert hatte. Einige Jahre später beabsichtigte sie, das dortige Kongresszentrum zu erweitern und um einen Neubau zu ergänzen. In diesem Zusammenhang schrieb die Auftraggeberin im Jahr 2020 den Auftrag „Mobile Trennwandanlagen“ EU-weit in einem offenen Verfahren aus. Sprich: Auf die ursprüngliche Vergabe zur Modernisierung und Erweiterung des Messegeländes folgte einige Jahre später im Rahmen der Erweiterung des Kongresszentrums das Vergabeverfahren über die Trennwandanlagen.

Das Angebot eines Unternehmens, die spätere Antragstellerin des Nachprüfungsverfahrens, erreichte bei dieser Ausschreibung den zweiten Platz. Mit einem Nachprüfungsantrag versuchte das Unternehmen zu erreichen, dass das Angebot des Erstplatzierten ausgeschlossen wird, um selbst den Auftrag zu erhalten. Die Vergabekammer verwarf den Nachprüfungsantrag jedoch als unzulässig, da der Auftragswert den Schwellenwert für Bauleistungen nach § 106 GWB (5,35 Mio. EUR netto) nicht erreiche und daher der Rechtsweg zu den Nachprüfungsinstanzen nicht offen ist. Das Unternehmen sah aber das bereits abgeschlossene Vorhaben zur Modernisierung und Erweiterung des Messegeländes und die nun erfolgte Ausschreibung für die Trennwandanlage als einen einheitlichen Auftrag an, der den maßgeblichen Schwellenwert überschreitet.

Manch einer fragt sich jetzt vielleicht verwundert: Wie kann bei einem offenen Verfahren ein Nachprüfungsverfahren unzulässig sein? Die Antwort: Die Vergabestelle hat das offene Verfahren offenbar freiwillig bzw. aus Rechtssicherheitsgründen gewählt (was möglich ist). Und zwar deswegen, um bei der späteren Fördermittelabrechnung keine Probleme zu bekommen. Sie hat sich also vorsorglich den strengeren Vorgaben des EU-Vergaberechts unterworfen.

Die Frage, ob das GWB anwendbar und daher die Zuständigkeit der Vergabekammer gegeben ist, beurteilt sich aber danach, ob der Auftragswert überschritten wird oder nicht. Da man in dem hier geschilderten Fall davon ausgeht, dass es zwei getrennte Aufträge sind und somit der Auftragswert nicht zusammengerechnet wird, wird der EU-Schwellenwert nicht erreicht. Es ist also nicht gesagt, dass das Vergaberecht oberhalb der Schwellenwerte gilt, wenn die Vergabestelle in EU-weites Verfahren freiwillig wählt, obwohl sie es vielleicht nicht müsste.

Die Entscheidung des OLGs Schleswig

Das OLG Schleswig entschied, dass die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag zu Recht als unzulässig verworfen habe. Für die Berechnung des Schwellenwerts seien die Vorhaben „Modernisierung und Erweiterung des Messegeländes“ und „Neubau und Erweiterung des Kongresszentrums“ nicht zusammenzuziehen.

Was zu einem Auftrag gehöre, sei anhand einer funktionalen Betrachtungsweise zu ermitteln. Bevor der Auftraggeber eine Aufteilung in verschiedene Aufträge vornehmen könne, seien organisatorische, inhaltliche, wirtschaftliche, technische, räumliche und zeitliche Zusammenhänge zwischen den Auftragsgegenständen zu prüfen. Ein einheitlicher Auftrag sei insbesondere dann anzunehmen, wenn der eine Teil ohne den anderen keine sinnvolle Funktion erfülle.

Zwar bestanden nach den Feststellungen des Gerichts durchaus organisatorische, räumliche und inhaltliche Zusammenhänge zwischen den Messehallen und dem Kongresszentrum. Jedoch lag kein so enger Zusammenhang vor, dass der Messekomplex nicht ohne das Kongresszentrum genutzt werden kann und umgekehrt. Somit führt nach Darstellung des OLG Schleswig die getrennte funktionale Nutzbarkeit dazu, dass verschiedene Aufträge vorliegen.

Eine Aufteilung in verschiedene Aufträge ist laut OLG möglich, wenn hierfür eine sachliche Begründung vorliegt, bei der die oben genannten funktionalen Zusammenhänge gewürdigt werden. Dabei stehe dem Auftraggeber ein weiter Ermessensspielraum zu, welcher erst überschritten werde, wenn die Aufteilung sachwidrig sei. Dies kann dem Gericht zufolge der Fall sein, wenn die Bedarfsentscheidungen zeitlich nah aufeinander folgen. Wenn jedoch, wie hier, verschiedene Maßnahmen zeitlich getrennt geplant werden und sich der Bedarf für das Kongresszentrum erst später zeigt – erst im Jahr 2016 wurde eine entsprechende Potentialanalyse erstellt –, liegen ausreichende sachliche Gründe vor, um die Aufträge getrennt zu behandeln.

Praxishinweis

Die Frage der Überschreitung der EU-Schwellenwerte ist nach wie vor eine der wichtigsten Wegegabelungen im Vergaberecht. Hiervon hängt nicht nur der Rechtsschutz vor den Nachprüfungsinstanzen ab, sondern auch die Wahl der richtigen Verfahrensart (§ 119 GWB) und weitere wichtige Verfahrensbestimmungen wie die Bekanntmachungspflichten oder die Informations- und Wartepflicht (§ 134 GWB). Die korrekte Auftragswertschätzung nach § 3 VgV (gilt auch im Baubereich) ist daher eine der zentralen Weichenstellungen, bei der in der Praxis immer wieder erhebliche Unsicherheiten bestehen.

Die Entscheidung des OLG Schleswig bietet nun eine Faustformel zur Aufteilung von (Bau-)Aufträgen und sorgt daher für eine gewisse Vereinfachung für die Auftraggeber: Kann der eine Teil nicht ohne den anderen genutzt werden, ist i. d. R. von einem einheitlichen Auftrag auszugehen. Es kommt also maßgeblich auf die Frage der (unterschiedlichen?) Nutzbarkeit der verschiedenen (Bau-)Vorhaben an, was anhand funktionaler Kriterien zu prüfen ist. Fehlen organisatorische, inhaltliche, wirtschaftliche, technische, räumliche oder zeitliche Zusammenhänge oder fallen diese angesichts der unterschiedlichen Nutzungszwecke nicht ins Gewicht, darf eine Aufteilung in verschiedene Aufträge erfolgen. Im vorliegenden Fall konnte die getrennte funktionale Nutzbarkeit nachvollziehbar dadurch festgestellt werden, dass Messeveranstaltungen ohne Nutzung des Kongresszentrums und Kongresse ohne Nutzung der Messehallen abgehalten werden können.

Dennoch ist bei der Anwendung dieser Faustformel Vorsicht geboten: In jedem Fall müssen die in Betracht kommenden funktionalen Zusammenhänge sorgfältig ermittelt und geprüft werden. Ergibt dies kein eindeutiges Bild, sollte im Zweifel das EU-Vergaberecht angewendet werden.

Besonders wichtig ist es auch, diese Prüfschritte sorgfältig zu dokumentieren und damit für eine sachliche Begründung der (Aufteilungs-)Entscheidung in der Vergabeakte zu sorgen. Wegen des weiten Beurteilungsspielraums unterliegt diese nur einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle durch die Nachprüfungsinstanzen, die sich im Regelfall auf die Prüfung einer Umgehung i. S. v. § 3 Abs. 2 VgV reduziert. Hierbei wiederum spielt vor allem der zeitliche Faktor beim Zustandekommen der Bedarfsentscheidung(en) eine Rolle.

Quelle

Christopher Theis ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Vergaberecht bei BEITEN BURKHARDT in Frankfurt. Er berät schwerpunktmäßig öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung und Durchführung EU-weiter und nationaler Vergabeverfahren. Herr Theis begleitet seine Mandanten dabei auch intensiv bei der Vertragsgestaltung und -verhandlung und vertritt deren Interessen vor den Nachprüfungsinstanzen.

BEITEN BURKHARDT berät als eine der führenden Kanzleien im Bereich der vergaberechtlichen Beratung öffentliche Auftraggeber bei der Vorbereitung, Durchführung und Realisierung von Beschaffungsmaßnahmen. Ein Fokus liegt hier auf komplexen Großvorhaben im Bereich der Informations- und Hochtechnologie. Daneben berät die Kanzlei anbietende Unternehmen bei der Teilnahme an Vergabeverfahren.

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