Aufhebung nur bei ordentlicher Kostenschätzung

14.04.2020
Von: Dr. Matthias Ulshöfer
Expertenbeitrag

Kostenüberschreitungen bei öffentlichen Bauprojekten sind auch jenseits der prominenten Fälle „Stuttgart 21“, Flughafen „BER“ und „Elbphilharmonie“ schon lange nicht mehr die Ausnahme. Die Ursache  dafür liegt oft in einem frühen Stadium. Regelmäßig wird aufgrund einer ersten Kostenschätzung über die Einstellung entsprechender Haushaltsmittel in politischen Gremien beschlossen. Dabei mag es durchaus eine gewisse Neigung zu einer moderaten Kostenschätzung geben, um das Vorhaben nicht frühzeitig scheitern zu lassen. Zum Schwur kommt es, wenn das Bauvorhaben dann ausgeschrieben wird und auch das wirtschaftlichste Angebot noch weit über den veranschlagten Haushaltsmitteln liegt. Zwar weist die VOB/A-EU in ihrem § 17 den vermeintlich einfachen Weg, das Vergabeverfahren mangels gesicherter Finanzierung aufzuheben und nach Änderung der Vergabeunterlagen neu auszuschreiben. Dieser Weg ist aber mit erheblichen Risiken verbunden. Die Vergabekammer Baden-Württemberg macht klar, dass eine Aufhebung der Ausschreibung nur dann in Betracht kommt, wenn die ursprüngliche Kostenschätzung ordnungsgemäß und auch zum Zeitpunkt der Ausschreibung noch realistisch war. Die Hürden für eine ordnungsgemäße Kostenschätzung liegen dabei relativ hoch.

Was war passiert?

Der öffentliche Auftraggeber hatte im Juli 2019 die Leistungen Stahlbau, Rohbau, Elektrotechnik und Erdbau für den Neubau eines aufwändig gestalteten Fußgängersteges ausgeschrieben, der über Gleisanlagen der Deutschen Bahn ein neues Stadtquartier an die Innenstadt anbinden sollte. Das vom Auftraggeber beauftragte Fachplanungsbüro hatte im Vorfeld der Ausschreibung, nämlich im Juli 2018, Kosten in Höhe von voraussichtlich 3,8 Millionen Euro ermittelt. Auf dieser Basis waren Haushaltsmittel bewilligt worden. Eine Ausschreibung der Bauleistungen erfolgte deshalb nur national.

Ein Unternehmen gab zwar das wirtschaftlichste Angebot ab, lag aber damit mehr als doppelt so hoch über der Kostenschätzung und damit auch weit über dem damaligen EU-Schwellenwert für Bauaufträge in Höhe von 5.548.000 Millionen Euro. Der Auftraggeber hob die Ausschreibung daraufhin nach § 17 bzw. § 17 EU Abs. 1 Nr. 3 VOB/A „aus anderen schwerwiegenden Gründen“ mit der Begründung auf, die Finanzierung sei nicht gesichert und eine grundlegende Umplanung und Änderung der Vergabeunterlagen sei erforderlich. Es solle versucht werden, die Ausschreibung nach einzelnen Gewerken getrennt durchzuführen, um einen größeren Bieterkreis erreichen zu können.

Für den Bestbieter stellten sich nun drei Fragen. Kann die „Aufhebung der Aufhebung“ und damit die Erteilung des Zuschlages durchgesetzt werden? Kann zumindest die Feststellung erreicht werden, dass die Aufhebung des Vergabeverfahrens rechtswidrig war? Wie sieht es mit der Erstattung von Schadensersatzansprüchen auf entgangenen Gewinn (positives Interesse) oder auf Ersatz der vergeblichen Aufwendungen für die Angebotserstellung aus (negatives Interesse)? Mit diesen 3 Fragen wandte sich das Unternehmen als Antragsstellerin an die Vergabekammer Baden-Württemberg.

Die Entscheidung der Vergabekammer

Der Nachprüfungsantrag hatte mit seinem „Hilfsantrag“ auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufhebung Erfolg. Die Vergabekammer stellte fest, dass die Kostenberechnung des Fachplanungsbüros aus dem Jahr 2018 schon deshalb keine ordnungsgemäße Grundlage der Auftragswertschätzung mehr sein konnte, weil sie nach der zwischenzeitlich erfolgten Konkretisierung des Ausschreibungsgegenstandes zeitlich überholt gewesen sei. Zudem seien nicht alle in der Kostenberechnung aufgeführten Positionen tatsächlich auch mit Preisen versehen gewesen.

Zum Zeitpunkt der Ausschreibung im Juli 2019 habe deshalb keine ordnungsgemäße Kostenschätzung vorgelegen. Die Aufhebung der Ausschreibung nach § 17 Abs. 1 VOB/A-EU sei daher rechtswidrig. Ein umsichtiger und sachkundiger öffentlicher Auftraggeber hätte – in Anbetracht der aktuell ständig steigenden Baukosten – die Kostenberechnung laufend fortschreiben und einen ausreichenden Risikozuschlag einpreisen müssen. Zwar war nachträglich ein vollständig bepreistes Leistungsverzeichnis zu den Vergabeakten gegeben worden. Dieses war aber offenbar erst nach Ablauf der Angebotsfrist im August 2019 erstellt worden und schon deshalb keine taugliche Grundlage für die vor der Ausschreibung vorzunehmende Kostenschätzung.

Die Vergabekammer ersetzte zudem die fehlerhafte Schätzung des Auftragswertes durch eine eigene Schätzung und ging daher vom Überschreiten des EU-Schwellenwertes aus. Eine Indiz Wirkung für das Überschreiten des Schwellenwertes hatte neben der Höhe des Angebots der Antragstellerin ein von dem Antragsgegner selbst vorgelegtes Sachverständigengutachten. In diesem waren deutlich höhere Kosten ermittelt worden, als es bei der ursprünglichen Kostenschätzung der Fall gewesen war.

Den „Hauptantrag“ auf „Aufhebung der Aufhebung“ und Zuschlagserteilung wies die Vergabekammer zurück. Der öffentliche Auftraggeber unterliege keinem Kontrahierungszwang, d.h. das Vergabeverfahren müsse nicht zwingend durch einen Zuschlag beendet werden. Die „Aufhebung der Aufhebung“ und damit die Verpflichtung zur Zuschlagserteilung komme nur ausnahmsweise in Betracht, wenn ein „sachlicher Grund“ für die Aufhebungsentscheidung fehle oder die Aufhebung zur Diskriminierung einzelner Bieter erfolge. Ein solcher „sachlicher Grund“ sei aber gegeben, wenn der öffentliche Auftraggeber feststelle, dass er auf die ausgeschriebene Beschaffung zunächst verzichten müsse, weil er keine ausreichenden Haushaltsmittel zur Verfügung habe. In diesem Fall stelle die fehlende Finanzierbarkeit einen sachlichen Grund dar.

Mit der Folgefrage, ob das auch gelten kann, wenn der öffentliche Auftraggeber die fehlende Finanzierbarkeit selbst verschuldet hat, weil er eben keine ordnungsgemäße Kostenschätzung erstellt hat, setzt sich die Vergabekammer dann nicht weiter auseinander. Auch die Überlegung, dass es wenig plausibel erscheint, durch die angekündigte Neuausschreibung nach Gewerken einen günstigeren Preis erzielen zu können als bei einer Gesamtausschreibung, verfolgt die Vergabekammer nicht weiter. Insoweit bleibt es sicher spannend, die künftige Ausgestaltung der Entscheidungspraxis zum „sachlichen Grund“ weiter zu verfolgen.

Auf Basis der Feststellung der Vergabekammer kann die Antragstellerin nun grundsätzlich Schadensersatzansprüche vor den Zivilgerichten geltend machen. Den Feststellungen der Vergabekammer über das Vorliegen eines Vergabeverstoßes kommt nach § 179 GWB insoweit Bindungswirkung zu.

Praxistipp

Öffentliche Auftraggeber müssen sich der Tatsache stellen, dass die Vergabekammern sich intensiv mit der im Vorfeld einer Ausschreibung anzustellenden Kostenschätzung auseinander setzen. Der Staatsanzeiger hat diese Problematik gerade in jüngerer Vergangenheit mehrfach aufgezeigt (vgl. Druckausgaben vom 17.01.2020 „Bauverband kritisiert Aufhebung von Ausschreibungen“ und vom 24.01.2020 „Die Kunst, den Auftragswert wirklichkeitsnah zu schätzen“).

Bieter, denen durch eine Aufhebung der Ausschreibung der an sich schon gewonnene Zuschlag wieder genommen werden soll, dürfen sich durch die Entscheidung der Vergabekammer durchaus ermutigt sehen, Rechtsschutz zu suchen. Allerdings sind derartige Verfahren prozessual nicht einfach zu führen.

So wird man für einen erfolgreichen Verfahrensausgang zunächst Akteneinsicht in die Kostenschätzung des Auftraggebers durchsetzen müssen, was wegen des gebotenen Geheimnisschutzes und dem berechtigten Anliegen, Wettbewerbsvorteile zu vermeiden, nicht selbstverständlich ist. Auch sollte man sich die Antragsstellung sorgfältig überlegen. Verschiedene Gerichte halten es für unzulässig, den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Vergabe isoliert zu stellen (vgl. OLG Celle, Beschl. v. 19.03.2019, 13 Verg 1/19). Unterliegt der Bieter mit der Aufhebung der Aufhebung, weil sich die Vergabekammer trotz fehlerhafter Kostenschätzung vom Vorliegen eines „sachlichen Grundes“ überzeugen lässt, so läuft er – wie auch im vorliegenden Fall – Gefahr, mit einem Teil der Verfahrenskosten belastet zu werden. Verschiedene Vergabekammern hatten dieses Dilemma in der Vergangenheit so gelöst, dass sie bei fehlerhaften Kostenschätzungen sämtliche Kosten dem öffentlichen Auftraggeber auferlegt hatten, so etwa die VK Leipzig, Beschl. v. 10.07.2019, 1/SVK/18-19.

 

Über den Autor:

Dr. Matthias Ulshöfer ist Leiter der Praxisgruppe Vergaberecht bei OPPENLÄNDER Rechtsanwälte und Fachanwalt für Vergaberecht. Dr. Joachim Ott, LL.M. ist Rechtsanwalt bei OPPENLÄNDER Rechtsanwälte. OPPENLÄNDER Rechtsanwälte berät Öffentliche Auftraggeber und Bieter zu allen Fragen des Vergaberechts und Kartellrechts und führt regelmäßig Verfahren vor den Vergabekammern des Bundes und der Länder, den Oberlandesgerichten und den Gerichten der Europäischen Union.

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