Stuttgart. Schon wieder ein Brückenschlag zwischen Regierungs- und zwei der drei Oppositionsfraktionen im baden-württembergischen Landtag: In der Europa-Debatte nach dem Brexit der Briten gingen die Redner von Grünen, CDU, SPD und FDP mit rechtspopulistischen und antieuropäischen Kräften hart ins Gericht. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sprach in einer Regierungserklärung von „der autoritären Versuchung“, die wiederauferstanden sei, und davon, dass „fast allerorten Systemverächter die Demokratie bedrängen“.
Fast drei Stunden lang nahm sich der Landtag am Mittwoch Zeit, um die Auswirkungen des Volksentscheids vom 23. Juni zu diskutieren. Es ging um die engen wirtschaftlichen Verflechtungen, um den Wissenschaftsaustausch, um transeuropäische Verkehrsprojekte, etwa im Rheintal. SPD-Fraktionschef Andreas Stoch berichtet von seiner Tochter, die derzeit ein Sozialpraktikum in der Nähe von London absolviere und vom „Schockzustand der Menschen“ erzähle. Gerade junge Menschen, verlangte der frühere Kultusminister weiter, dürften nicht „rechtspopulistischen Rattenfängern“ überlassen werden. Es könne aber auch nicht sein, dass „Europa für viele Menschen heute gleichbedeutend ist mit Marktradikalismus und Neoliberalismus“.
Schwarz: "Ein Zurück gibt es nicht mehr"
Für die Grünen bezeichnete sich Andreas Schwarz „ganz persönlich“ als erbittert über den Ausgang des Referendums. „Meine Generation hat nicht für den Brexit gestimmt“, so der 40-Jährige. Zum ersten Mal werde die europäische Union nicht größer, sondern kleiner, "das ist ein Rückschlag". Überall breiteten sich „Kräfte aus, die ihr nationales Süppchen kochen wollen“. Gerade dieser „rechtspopulistischen Dominoeffekt“ dürfe aber nicht zugelassen werden. Nicht zuletzt die Landesparlamente seien in der Lage und in der Rolle, die EU weiterzuentwickeln. Und Schwarz wirbt für ein neues Investitionsprogramm, weil Menschen, „die sich abgehängt fühlen, besonders anfällig sind für Populisten“. Die Gemeinschaft bringe Wohlstand, deshalb müsse auf den Brexit „ein großer Schritt hinein in die Integration und nicht heraus aus der Union folgen“. Schwarz weiter: „Wir jungen Leute wissen, ein Zurück gibt es nicht mehr, und wir wissen, dass die Europäische Union nicht Teil des Problems, sondern Teil der Lösung ist.“
FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke bezeichnete das politische Gewicht der Nationalstaaten als zu gering: „Wir sind aufgerufen, daran zu arbeiten, dass Europa nicht auseinanderfällt, dazu ist aber eine intensive Analyse der Probleme notwendig.“ Europa brauche mehr Demokratie, mehr Transparenz, mehr Subsidiarität und die Wahrung der Interessen der Bürger anstelle eines "Schuldenstaats". Scharf kritisierte Rülke drei maßgebliche Politiker in Europa, die nach seiner Ansicht erheblichen Schaden anrichten: Kommissionspräsident Jean Claude Juncker, Zentralbankchef Mario Draghi und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Deren "Brüsseler-Hinterzimmerprojekt" müsse beendet werden.
Wolfgang Reinhart, der CDU-Fraktionschef, zitierte Papst Franziskus mit der Frage: „Was ist los mit dir, Europa?“ Die Briten hätten sich in freier Selbstbestimmung von einem „welthistorischen Modell des Friedens und der Vereinigung" verabschiedet, dieser Entscheid sei aber „wider die Vernunft" gewesen. Alle anderen Länder müssten diese Entscheidung respektieren, es müssten aber auch die richtigen Lehren daraus gezogen werden: Schrille antieuropäische Reflexe seien geschürt worden. Es drohe eine Erosion von innen und deshalb brauche es „stärkere europäische Graswurzeln in der Gesellschaft“. Der frühere Europaminister trat für eine Gemeinschaft der Regionen ein und bemühte Altbundeskanzler Helmut Kohl (CDU): Die Frage von Europa sei „eine Frage von Krieg und Frieden“. Sein Vater habe seine besten Jahre im Krieg verbracht, so Reinhart weiter, aber offenbar „verliert dieses große Friedensversprechen Europa an Strahlkraft“.
Kretschmann erinnerte daran, dass der Gedanke der „Vereinigten Staaten von Europa“ gleich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde. Denn schon Winston Churchill habe 1946 in einer Rede vor Studierenden der Universität Zürich diesen Begriff verwendet. Für Baden-Württemberg sei seine Lage im Herzen Europas „heute ein Segen“. Über Jahrhunderte habe sie dem Kontinent „eine endlose Folge von Konflikten und Kriegen beschert – mit Millionen von Toten und Verwundeten“.
Meuthen spricht von "Perversitäten des EU-Haushalts“
Jörg Meuthen, Fraktionschef der AfD, kritisierte die Kritiker der Populisten. Es sei „komplett falsch und schlicht eine Unverschämtheit“, wenn Kretschmann den Vertretern der AfD nachsage, sie seien Europa-Gegner. „Wir sind deutsche und wir sind auch europäische Patrioten“, erklärte Meuthen, der als einziger Redner die britische Entscheidung ausführlich lobte. Die Briten hätten mit ihren „Leave-Entscheidung“ einfach „etwas genauer hingeschaut, als das hierzulande üblich ist“ und „wir Untertanen das wohl tun sollen“. Dabei hätten sie allerlei „EU-Eliten“ entdeckt, die wie die Made im Speck einer Brüsseler beziehungsweise Straßburger Existenz leben, von den Steuergeldern der Bürger, von denen sie sich mit den Jahren meilenweit entfernt haben“. Wie schon in den ersten Plenarsitzungen löste Meuthen zahlreiche Zwischenrufe der Abgeordneten anderer Fraktionen aus. Etwa als er europäische Bauern „Subventions-Junkies“ nannte, von den "Absonderlichkeiten, zum Teil sogar den Perversitäten des EU-Haushalts“ sprach und bekannte, auch er „hätte dieser EU, hätte ich mit abstimmen dürfen, den Stecker gezogen, nicht um sie zur Strecke zu bringen, sondern um sie zu zwingen, endlich erwachsen“. Zudem bezeichnete er Juncker und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz als „tragische Gestalten, von denen wir hoffen dürfen, dass die Geschichte diese Gestalten bald hinfortspült in die historische Belanglosigkeit“. Europaminister Guido Wolf (CDU) verlangte von Meuthen daraufhin seine Rhetorik zu ändern, weil er Europa spalte.
Für die Aufreger des Vormittags sorgte der Göppinger AfD-Abgeordnete Heinrich Fiechtner, der Andreas Schwarz bei einem Zwischenruf "Brandstifter" nannte und die anderen Fraktionen aufforderte, sich um ihren "eigenen Antisemitismus" zu kümmern. Die Parlamentspräsidenten Muhterem Aras rügte Fiechtner und drohte, ihn aus dem Plenarsaal zu verweisen, sollte er sich nicht an die Gepflogenheiten halten. Fiechtner kam ans Rednerpult, wollte sich aber nicht entschuldigen, und daraufhin entzog ihm Aras das Wort.