Stuttgart. Mehr als zwei Monate nach der ersten Regierungserklärung von Innenminister Thomas Strobl (CDU) zur Digitalisierungsstrategie der Landesregierung nutzte die Opposition im Landtag am Mittwoch die verschobene Aussprache darüber zur heftigen Kritik an den grün-schwarzen Plänen.
AfD-Fraktionschef Jörg Meuthen hielt der Regierung das Brechen von Wahlversprechen vor. Die Netzabdeckung sei schlechter als in Entwicklungs- und Schwellenländern, im ländlichen Raum müsse sich Baden-Württemberg Ländern wie Uruguay, Kasachstan und Georgien geschlagen geben. Baden-Württemberg sei ein „Funkloch-Mekka“, nirgends gebe es so viele Funklöcher wie hier, kritisierte der Vorsitzende der größten Oppositionsfraktion. Meuthen bemängelte die zu geringen Fördermittel; außerdem sorge Bürokratie für digitalen Stillstand. Der Landesregierung fehle jeder ordnungspolitischer Kompaß. Ohne Bildung werde man die Früchte der Digitalisierung nicht ernten können. Sinnvolle sei der Ansatz einer Verwaltung 4.0.
Auch SPD-Fraktionschef Andreas Stoch warf der Landesregierung vor, keine Strategie für die Folgen der Digitalisierung auf Arbeitsplätze, Mobilität und gesundheitliche Versorgung zu haben. Grün-Schwarz fehle bei der Digitalisierung „ein roter Faden“. Deshalb bestehe das Risiko, dass die Digitalisierung zu einem Angstthema und nicht zu einem Chancenthema werde. Der frühere Kultusminister kritisierte, dass das Fach Informatik nur an den siebten Klassen im Gymnasium eingeführt werde und nicht in allen weiterführenden Schularten. Dies beweise ihm, dass die Landesregierung die Digitalisierung nicht verstanden habe. Stoch forderte Bund und Land auf, mehr Geld für die Bildung der Menschen bereit zu stellen; es dürften nicht noch mehr in die Frustration verloren gehen.
Für Timm Kern (FDP) kommt die Strategie von Grün-Schwarz zu spät und sei „nicht zu Ende gedacht“. Für die digitalen Zukunftsprojekte würden Konzepte und ein realistischer Umsetzungsplan fehlen. Er konstatierte ein „Kompetenz- und Zuständigkeits-Wirrwarr“ und forderte deshalb die Zentralisierung der Digitalisierung. Auch Kern bemängelte die fehlende Breitband-Grundversorgung sowie bürokratische Förderanträge; deren Bearbeitszeit von sechs Monaten sei „erschreckend“. Der FDP-Politiker warf Minister Strobl „Überheblichkeit im Amt“ vor und forderte ihn auf, seinen „Geltungsdrang hintenanzustellen“. Phrasendrescherei reiche nicht bei dieser wichtigen Zukunftsaufgabe.
Die verspätete Aussprache war notwendig geworden, weil Strobl im Juli seine Regierungserklärung den Landtagsfraktionen verspätet zugeleitet hatte. Deshalb hatte es Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) am 20. Juli als das Recht der Opposition bezeichnet, die Aussprache aufgrund der Geschäftsordnung des Landtags zu verschieben.
In der Debatte räumte der für die Digitalisierung zuständige Innenminister ein, in Baden-Württemberg gebe es „noch zu viele weiße Flecken“. Ohne schnelles Internet gebe es keine Digitalisierung, weshalb die Regierung an einer flächendeckenden Abdeckung arbeite. Bis 2021 werde Grün-Schwarz rund eine Milliarde Euro als „Treibstoff“ in die „Jahrhundertaufgabe“ investieren. Damit soll der Breitbandausbau fortgesetzt und die Datensicherheit aufgebaut werden.
Als „Leichttürme der Digitalisierung“ würden 70 neue strategische Projekte auf den Weg gebracht, kündigte Strobl an. Langfristiges Ziel sei es, Baden-Württemberg zur „digitalen Leitregion“ in Deutschland zu machen. Ein eigenes Digitalisierungsministerium lehnte der CDU-Politiker ab; Digitalisierung sei eine Querschnittsaufgabe und könne nicht in einem einzigen Ministerium bearbeitet werden. Digitalisierung bedeutet die elektronische Speicherung und Verarbeitung von Daten. Praktische Beispiele für die Bürger können automatisiertes Fahren bis zu selbstfahrenden Autos, Telesprechstunden beim Arzt und virtuelle Behördengänge sein.
Auch die Fraktionschefs von Grünen und CDU verteidigten die Initiative der Regierung. Andreas Schwarz (Grüne) sagte, seine Fraktion wolle die Menschen mitnehmen. Datenschutz und Datensicherheit seien wichtig, Digitalisierung bezeichnete er als „Freiheitsprogramm“. Breitbandausbau, Förderung von Forschung und Entwicklung sowie Bildung seien Eckpfeiler der Rahmenbedingungen. „Ich bin ein Fan der Digitalisierung“, erklärte Schwarz. Sie biete die Chance, dass Wirtschaft, aber auch die Lebensweise nachhaltiger werde und der Naturverbrauch reduziert werden könne. Der digitale Wandel trage die Kraft in sich, unsere Gesellschaft grundlegend zu verändern. Er sei Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) dankbar, dass er das Thema zur Chefsache erklärt habe und auch Strobl dafür, dass er die Strategie mit Beteiligung aller Ressorts erarbeitet habe.
Wolfgang Reinhart (CDU) bezeichnete die Digitalisierungsstrategie als Meilenstein auf dem Weg in die Zukunft. Man wolle an den sich dadurch bietenden neuen Chancen, neuen Produkten, neuen Ideen, neuen Freiheiten und neuem Wachstum teilhaben. Für die „ehrgeizigen programmatischen Ziele“ signalisierte er finanzielle Mittel: Der im Koalitionsvertrag vereinbarte Betrag von 320 Millionen Euro für fünf Jahre werde auf über eine Milliarde Euro verdreifacht. Die neue Landesregierung habe die „lust- und kraftlose Digitalpolitik“ der grün-roten Regierungszeit beendet. Reinhart betonte, auch im Netz gehörten Freiheit und Sicherheit zusammen. Deshalb sei es Aufgabe der Cyber-Wehr, die landeseigene IT mit einer Sicherheitsstrategie ebenso zu schützen wie Mittelständler und Privatleute vor Hackerattacken, Onlinespionage und Datenkidnapping. Bei der Medienbildung seien nicht nur Hardwareausrüstung, sondern auch Medienkompetenz und -bildung notwendig.