Stuttgart. Noch ist der neue Landtag von Baden-Württemberg nicht gewählt. Aber ein wichtiges Thema steht für die 16. Legislaturperiode bereits fest: Die zukunftsorientierte und generationengerechte Gestaltung der Pflege im Südwesten. „Es gilt immer zu bedenken: Pflege betrifft uns alle“, sagte Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) am Mittwoch im Landtag, als sie den Bericht und die Empfehlungen der Enquetekommission Pflege entgegen nahm. Denn eines steht angesichts der demografischen Entwicklung unumstößlich fest: Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den nächsten Jahren rasant zunehmen. Und deren Versorgung wird eine große Herausforderung.
Am 27. März 2014 hatte der Landtag auf Empfehlung aller vier Fraktionen einstimmig die Enquetekommission eingesetzt; 14 Abgeordnete und vier Sachverständige als externe Mitglieder widmeten sich seitdem in 16 Sitzungen und 12 Anhörungen dem Thema, zu dem auch 57 Experten gehört wurden. „Wir hatten bei allem immer erst den Mensch im Blick“, berichtete der Kommissionsvorsitzende Helmut Rüeck (CDU) bei der Vorlage des 1012 Seiten umfassenden Abschlussberichts.
Darin werden der zukünftigen Landesregierung und dem neuen Parlament mehr als 600 Handlungsempfehlungen gegeben, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Mehr als 300 000 Menschen sind in Baden-Württemberg aktuell pflegebedürftig, im Jahr 2030 könnten es nach Schätzungen von Rüeck 400 000 sein. Die Zahl der Demenzkranken werde von 200 000 im vergangenen Jahr auf knapp 260 000 im Jahr 2030 steigen. Dafür seien insgesamt 46 000 zusätzliche Pflegekräfte erforderlich.
Um diese zu gewinnen und bewährtes Fachpersonal im Beruf zu halten, müsse die Attraktivität der Pflegeberufe gesteigert, bessere Rahmen- und Arbeitsbedingungen geschaffen und auch Pflegekräfte mit Migrations-Hintergrund gewonnen werden, forderte Rüeck. Derzeit seien Pflegekräfte im Durchschnitt nur 8,4 Jahre in ihrem Beruf tätig. Außerdem dürfe man sich nicht darauf verlassen, dass weiterhin, wie aktuell, 70 Prozent der pflegebedürftigen Menschen von ihren Familien in gewohnter Umgebung gepflegt würden.
Im Kommissionsbericht wird gefordert, Selbstbestimmung der Pflegebedürftigen zu ermöglichen, Fachkräfte zu sichern, den Pflegeberuf zu stärken und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, die Aus- und Weiterbildungsqualität zu verbessern, lebensphasengerechte Wohnangebote zu schaffen, pflegende Angehörige zu stärken, bürgerschaftliches Engagement zu stärken, die Rehabilitation auszubauen, Sektorengrenzen im Gesundheitsbereich zu überwinden und eine generationsgerechte Finanzierung der Pflege zu gewährleisten.
„Viele dieser Themen stehen bereits im Fokus der Pflegepolitik des Landes“, sagte die Sozialministerin, die selbst aus dem Pflegeberuf kommt. Sie wies auf die Verabschiedung des Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetzes, die Landesheimbauverordnung, die Landespersonalverordnung, das Konzept zur Weiterentwicklung ambulanter Versorgungsstrukturen, das Geriatriekonzept sowie den von Kassen und Kommunen vereinbarten Ausbau der Pflegestützpunkte. Dies sei ein Schritt in die richtige Richtung“, bewertete Altpeter die Einrichtung weiterer 24 zu den bestehenden 48 Stützpunkten im Südwesten positiv. „Wir haben klare Vorstellungen, wie die Pflege in Baden-Württemberg in Zukunft aufgestellt sein soll“, sagte die Ministerin, die vor allem Wert darauf legt, dass Pflegebedürftige in Einzelzimmern leben. „Keiner von uns will doch in einer solchen Situation mit wildfremden Menschen ein Doppelzimmer teilen.“
Abgeordnete aller Fraktionen begrüßten den Kommissionsbericht. Thaddäus Kunzmann (CDU) wies darauf hin, dass bald auch die erste Gastarbeiter-Generation pflegebedürftig werde. Auch Quartierskonzepte müssten nach der Landtagswahl entwickelt werden. Gut ausgebildete Pflegekräfte seien notwendig, auch, weil Angehörige mit der Pflege oft überfordert seien. Für die Grünen-Abgeordnete Bärbl Mielich ist Pflege „eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe“, die in Städten, Dörfern und Orten wohnortnah und im sozialen Leben stattfinden müsse. Menschen müssten „in Würde alt werden“ und dürften keine Angst davor haben, ihre Autonomie zu verlieren. Deshalb sollten ältere Menschen möglichst lange in ihrem gewohnten Umfeld bleiben. Da Pflege komplexer und schwieriger werde, sei eine Teilakademisierung des Berufs notwendig.
Der SPD-Abgeordnete Rainer Hinderer appellierte für die „Achtung und den Erhalt der Menschenwürde“ in der Pflege. Die Familienpflege solle gestärkt, professionelle Kräfte im Beruf gehalten, Fachkräfte, auch im Ausland, gewonnen und mehr Geld für die Pflege bereitgestellt werden. Weil gute Pflege auch Geld koste, erwartet Hinderer steigende Beiträge zur Pflegeversicherung. Die Gewinn von Pflegefachkräften und die Finanzierung der Pflege sind für den FDP-Abgeordneten Jochen Haußmann „zentrale Punkte“. Für ihn stellt die durchaus gängige Beschäftigung ausländischer und oft schlecht bezahlter Pflegekräfte, vor allem aus Osteuropa, eine Grauzone dar.