Stuttgart. Die Sonderschulpflicht in Baden-Württemberg ist Geschichte. Mit der Mehrheit von Grünen und SPD stimmten die Regierungsfraktionen am Mittwoch im Landtag dem Gesetzentwurf der Landesregierung zu, mit dem die Pflicht zum Besuch der Sonderschule für behinderte Schüler aufgehoben wird.
Eltern von Kindern mit einem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot haben künftig das Wahlrecht, ob sie ihre Kinder in eine Sonderschule oder in eine allgemein bildende Schulen schicken. Die Oppositionsfraktionen von CDU und FDP stimmten gegen das Gesetz und scheiterten in zweiter Lesung zugleich mit mehreren Dutzend Änderungs- und Entschließungsanträgen.
Kultusminister Andreas Stoch (SPD) bezeichnete die Inklusion als eine „Frage der Menschenwürde“ und ein „gesamtgesellschaftliches Großprojekt“. Mit dem Gesetz würden die Weichen für eine inklusive Gesellschaft gestellt, wobei zentrales Instrument das allgemeine Eltern-Wahlrecht sei. Jede Schule sei nun aufgefordert, sich auf den Weg zu inklusiven Angeboten zu machen. Das neue Schulgesetz wird bereits zum kommenden Schuljahr 2015/16 wirksam. Stoch sagte jedoch, die Umsetzung der Inklusion brauche „viel Zeit“, alle Beteiligten müssten eng eingebunden werden.
Als „Gewinn für alle Kinder“ apostrophierte Thomas Poreski (Grüne) die Inklusion. Durch das Wahlrecht der Eltern werde niemand zu etwas gezwungen, deshalb sei der Weg von Baden-Württemberg richtig. „Wir schaffen keine heitere Welt, sondern eine bessere“, sagte der Grünen-Abgeordnete. Er ist davon überzeugt, dass die Sonderpädagogik durch das Gesetz an Bedeutung gewinne. Bereits zum neuen Schuljahr wurden in einer ersten Tranche 200 neue Sonderschullehrer eingestellt. Die von der Opposition eingebrachten „Last-Minute-Änderungen“ lehnte er ab.
Klaus Käppeler (SPD) würdigte den Gesetzestext als „beispielhaft“. Mit ihm würden „Schranken in den Köpfen eingerissen“. Das Recht von Behinderten, am Unterricht in Regelschulen teilzunehmen, sei in anderen Ländern schon längst Realität. Inklusion sei Aufgabe „für alle Schularten“ und sie werde nun nicht mehr in Frage gestellt. Damit ändere sich auch die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung. Käppeler wies darauf hin, dass die im Gesetz enthaltenen Regelungen für die Privatschulen in freier Trägerschaft „noch ergänzt“ werden müssen.
Die Experten von CDU und FDP lehnten das Gesetz aus vielerlei Gründen ab. Zwar bekenne sich die CDU klar zur Inklusion, aber Inklusion müsse richtig und „zum Wohle der Kinder“ , das an oberster Stelle stehe, gemacht werden, sagte Monika Stolz (CDU). Als Vorteil des Gesetzes nannte sie, dass die Sonderschulen in Baden-Württemberg erhalten bleiben und nicht, wie von den Grünen angestrebt, abgeschafft werden. Stolz sieht allerdings unbeantwortete Fragen: Ist das hohe Niveau mit Inklusion weiterhin an den allgemein bildenden Schulen möglich? Ist die Finanzierung gesichert? Womöglich müssten Eltern, Kinder und Schulträger das „Gesetz auf den letzten Drücker ausbaden“.
Die frühere Sozialministerin rechtfertigte auch die kurzfristigen Anträge; die CDU wolle die bestmögliche Förderung, die gleiche Qualität und die finanzielle Gleichstellung der Privatstellen. „Wir dürfen die Eltern nicht allein lassen“, sagte Stolz. „Ihre Anträge atmen den Geist einer Pseudo-Inklusion“, konterte Käppeler.
Timm Kern (FDP) sieht im Zeitplan der grün-roten Regierung „eine Machtdemonstration“. Grün-Rot habe sich nie die Mühe gemacht, die Opposition mit an Bord zu nehmen. Aus Sicht des liberalen Bildungsexperten wurden auch die Bedenken des Landesbehinderten-Beauftragten und weitere kritische Anmerkungen nicht berücksichtigt. Kern würdigte die bisherige Arbeit der Sonderschulen als „herausragend“ und forderte: „Deren Existenz muss bleiben.“
Im Gesetz ist von der Weiterentwicklung der Sonderschulen zu sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren die Rede, die sich auch für Kinder ohne Behinderungen öffnen. „Kinder gehen in die Schule und nicht in Zentren“, kommentierte dies der Pädagoge Kern.