STUTTGART. Nach den neuesten Zahlen sind 71 Prozent der Bevölkerung im Alter von über zwölf Jahren in Baden-Württemberg inzwischen geimpft. „Nicht nur vor diesem Hintergrund war die sogenannte Sieben-Tage-Inzidenz für die Belastung des Gesundheitssystems und für die ordnungspolitische Ausrichtung nur noch begrenzt aussagefähig und zielführend“, erläuterte Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) in einer Landtagsdebatte zur jüngsten Corona-Verordnung. Noch jedoch sei „kein ausreichender Schutz durch Herdenimmunität erreicht", eine vierte Welle mit einer entsprechenden Belastung des Gesundheitssystems vor allem durch Ungeimpfte zeichne sich weiter ab.
Gegenwärtig seien die Betten auf den Intensivstationen zu 93 bis 97 Prozent mit nicht geimpften Patienten belegt. Auch deshalb sei Baden-Württemberg "mit den neuen Indikatoren mutig vorangegangen und andere Länder sind uns gefolgt“.
Während der Sozialminister die neue Sieben-Tage-Hospitalisierungsinzidenz und die Einführung des Auslastungswerts der Intensivbettenbelegung als Parameter lobte, kritisierten die Redner der Opposition das Vorgehen der Regierung. Auch nach über 18 Monaten Pandemie bleibe die Lernkurve der Landesregierung überschaubar, kritisierte Nico Weinmann (FDP). Willkürlich gegriffene Zahlenwerte bei der Sieben-Tage-Inzidenz würden durch willkürliche Zahlenwerte bei der Hospitalisierungsrate ersetzt. So werde spätestens mit dem Erreichen der „Alarmstufe“ ein Teil der Gesellschaft vom öffentlichen Leben abgeschnitten sein. Dabei gebe es gerade im Einzelhandel funktionierende Hygienekonzepte, die eine Übertragung des Virus ohne einen faktischen Lockdown für Ungeimpfte verhindern.
Unzufrieden zeigte sich der Heilbronner Landtagsagordnete auch mit den Arbeitsabläufen in der Landesregierung: An Dienstagen kündige Sozialminister Lucha bei den Regierungspressekonferenzen bestimmte Änderungen an, danach folgten tagelange Spekulationen um die genaue Ausgestaltung, „und weitere Details erfahren Landtag, Kommunen und Unternehmen dann regelmäßig erst aus der Presse, die oftmals die entsprechenden Vorlagen trotz angeblicher Notwendigkeit der Notverkündung vor dem Parlament erhält". Auf diese Weise werde das Parlament missachtet, und Kommunen sowie Unternehmen um die gebotene Planungssicherheit gebracht.
Auch Boris Weirauch (SPD) beklagte die „Überraschungsverordnungen“ und neu festgelegte Verschärfungen von 3G auf 2G bei zunehmenden Infektionen. In diesem Fall sei der Zugang nur genesenen und geimpften Personen möglich, was im Grundsatz auch vertretbar sei, „sofern die Schwellenwerte entsprechend ausgestaltet sind und die zugrundeliegende Modellierung einer rechtlichen Prüfung standhält“. Seine Fraktion gebe aber aus verfassungsrechtlicher Perspektive heraus zu bedenken, dass die Gerichte insbesondere den Übergang zur 2G-Systematik prüfen würden. Die Folgen der Unterscheidung stellten einen nicht unwesentlichen Grundrechtseingriff dar, den die Landesregierung gerichtsfest zu rechtfertigen habe. Das habe schon in der Vergangenheit nicht immer so richtig geklappt, etwa im vergangenen Winter, als der VGH Mannheim die landesweiten Ausgangssperren gekippt habe - „und das sollte kein zweites Mal passieren“.
Der neue AfD-Abgeordnete Ruben Rupp sprach von der „wahrscheinlich radikalsten Corona-Verordnung einer Landesregierung“. Sie spalte die Gesellschaft in Bürger erster Klasse, die Geimpften, und Bürger zweiter Klasse, die Ungeimpften: „Der Bürger zweiter Klasse muss damit rechnen, dass er, wenn er ab November in Corona-Zwangsquarantäne geschickt wird, keinen Anspruch auf Lohnfortzahlung hat.“ Zudem werde man zu permanenten Testungen genötigt und auf diese Weise eine Impfpflicht durch die Hintertür eingeführt. Die jüngste Verordnung sei "nichts anderes als eine Erpressungs-Verordnung" - mit einer "Verbotsorgie" in Gastronomie, Sport, Diskotheken, Bädern, Museen und bei öffentlichen Veranstaltungen.
Petra Krebs (Grüne) empfahl der AfD wissenschaftliche Magazine zu lesen, vor allem mit Blick auf das Thema Impfung und angesichts der niedrigen Erkrankung- und Sterberaten unter Älteren: „Sie sehen also, dass Impfen hilft und Impfen wirkt, darum lassen Sie uns alle gemeinsam etwas dafür tun, dort weiterzumachen.“ Für die CDU lobte Michael Preusch, wie „wir gelernt haben, dass unsere Maßnahmen im Lichte der Infektionsentwicklung zu bewerten und zu überdenken“. Dementsprechend seien in der neuen Verordnung generelle Ausgangsbeschränkungen und ein erneuter Lockdown gar nicht mehr thematisiert.