STUTTGART/BERLIN. Während das Beherbergungsverbot im Landtag kritisiert wurde, setzte es der Verwaltungsgerichtshof außer Vollzug. Weniger hitzig wurden die Corona-Regeln diskutiert, die Bund und Länder am Mittwoch beschlossen hatten. Ministerpräsident Kretschmann appellierte, man müsse das Ruder nun herumreißen, sonst komme man in schwere Bedrängnis.
850 Neuinfektionen innerhalb von 24 Stunden, eine 7-Tage-Inzidenz von fast 35 für das Land, sechs Stadt- und Landkreise mit einer Inzidenz von über 50, neun über 35 (Stand Donnerstag). Gesundheitsämter, die aufgrund der zunehmend diffusen Virus-Ausbreitung Hilfe von der Bundeswehr benötigen, da sie sonst die Kontaktpersonen von Infizierten nicht mehr nachverfolgen können. „Wenn die nicht mehr nachvollziehbar sind, verlieren wir die Kontrolle“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Donnerstag im Landtag.
„Wir müssen jetzt das Ruder rumreißen, sonst kommen wir in schwere Bedrängnis“, insistierte Kretschmann. Denn das Virus sei längst in allen Altersgruppen, es könne kein Argument sein, dass Krankenhäuser noch nicht an ihrer Belastungsgrenze seien. „Jede Entscheidung, die wir heute treffen oder nicht treffen, wirkt sich in einigen Tagen auf sie aus.“ Und das sei, so Kretschmann, „kein Alarmismus, sondern Realismus“. Deshalb begrüßt er die Beschlüsse, auf die sich Bund und Länder am Mittwoch geeinigt haben (siehe Kasten). Vor allem sei die Prioritäten-Setzung wichtig, es sei ein Dreiklang aus Gesundheitsschutz, Offenhalten von Kitas und Schulen und Aufrechterhalten des Arbeitslebens. „Ein zweites Mal können wir uns solche Maßnahmen, wie das Herunterfahren der Wirtschaft, nicht leisten.“
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Forschern zufolge ist es, so Kretschmann, nicht fünf vor zwölf, sondern bereits zwölf. Es gehe nun um das gesamte Land und seine Interessen und erst danach um Einzel- und Partikularinteressen, „so schwer das auch manchmal fällt“. Damit Kontakte so gut es geht nachverfolgt werden können, sollen die Gesundheitsämter gestärkt werden, so Kretschmann. Dafür soll es Abordnungen aus anderen Behörden geben, Studierende würden angesprochen. Unterstützung habe auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) durch Bundeswehr und andere nachgeordnete Bundesbehörden angekündigt.
Mitarbeitern von Behörden dankte der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Andreas Schwarz. Mit Blick auf Kreise und Kommunen sagte er, sie „werden wir nun als starke Partner brauchen“. Denn sie müssten Maßnahmen ergreifen.
Auch der SPD-Fraktionsvorsitzende Andreas Stoch sprach Behörden seinen Dank aus. Unverständnis zeigte er gegenüber denjenigen, die sich nicht an Regeln halten: „Was muss denn noch passieren, dass jeder versteht, dass jetzt wieder gehandelt werden muss?“ Jeder müsse seinen Teil beitragen. Es gehe darum, Tote zu vermeiden, „das haben wir bisher besser geschafft als andere Länder“.
Laut Wolfgang Reinhart, Fraktionsvorsitzender der CDU, zeigen die Zahlen und die Regierungsinformation, dass Corona eine Geduldsprobe bleibe. Die zweite Welle „haben wir bereits“, sagte er. „Was jetzt in Frankreich und überall in Europa passiert, ist auch bei uns nicht mehr ausgeschlossen.“ Die Lage sei Forschern zufolge „ernster, als viele sie wahrnehmen“.
Der AfD-Fraktionsvorsitzende Bernd Gögel zitierte dagegen Aristoteles und folgerte: „Wir wollen keine Sklaven sein.“ Jeder solle eigenverantwortlich seine eigene Prioritäten setzen können.
Zustimmung und Bedenken äußerte der FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke. Was das Beherbergungsverbot angeht, hatte seine Fraktion einen Dringlichkeitsantrag gestellt. Sie ließ ihn aber fallen, da während der Sitzung bekannt wurde, dass der Verwaltungsgerichtshof das Verbot wegen Unverhältnismäßigkeit gekippt hatte. Die FDP kritisierte weiter, dass nur die Zahl der positiv Getesteten betrachtet werde. Das greife aber zu kurz. Rülke warb für Nachvollziehbarkeit. Was eine um eine Stunde vorverlegte Sperrstunde bringen solle, sei ihm etwa ein Rätsel.